Kritik zu Judgment: Vom Anwalt zum Detektiv

Rund 99,9% der Angeklagten werden in Japan vor Gericht verurteilt. Kann die Staatsanwaltschaft den geringsten Verdacht auf den Schuldigen lenken, zögern Richter meist nicht. Gerechtigkeit ist zweitrangig: Staatsanwälte und Richter brauchen für ihre Karriere eine hohe Verurteilungsrate. Sind Fälle unklar, kommt es oft nicht zum Prozess - selbst bei schweren Verbrechen wie Mord. Umso eindrucksvoller ist es, dass Junganwalt Takayuki Yagami seinem Mandanten, einem mutmaßlichen Serienmörder, zum Freispruch verhelfen kann. Der 32-Jährige wird in Tokio zu einem Superstar und kann sich vor Klienten kaum noch retten. Das alles endet schlagartig, als sich der freigesprochene Mandant doch als Serienmörder herausstellt. Yagamis Karriere endet so schnell, wie sie begonnen hat. Drei Jahre später setzt Judgment an: Der gefallene Anwalt kommt als Privatdetektiv über die Runden. Seinen maßgeschneiderten Anzug hat er gegen eine Lederjacke getauscht.

Für die Entwicklung des Playstation-Spiels war Ryu Ga Gotoku Studio zuständig, die sich weltweit mit den Yakuza-Titeln einen Namen gemacht haben. Judgement ist unverkennbar ein Spin-off der Reihe, die Geschichte stammt wieder aus der Feder des Produzenten Toshihiro Nagoshi. Die Gemeinsamkeiten sind so zahlreich, dass es fast schon auf der Hand liegt, von einer Kopie zu sprechen. Kamurocho, der fiktionale Stadtteil von Tokio, sieht noch exakt so aus wie in Yakuza 6 aus dem vergangenen Jahr. Die Restaurants servieren noch das gleiche Essen, die Straßen haben die bekannten Namen und selbst die Gangs liefern sich noch Kleinkriege. Böse Zungen könnten nun natürlich behaupten, in Judgment werden nur alte Grafiken, Modelle und Ideen für schnellen Gewinn wiederverwertet. Wenn das Spiel ein Disney-Film wäre, käme es mit dem Zusatz “A Yakuza tale” in die Kinos.

Enge Spielwelt, großer Umfang

Die Kritik ist valide, bezieht jedoch nicht die Entwicklungszeit an derart riesigen Projekten mit ein. Denn in Judgment steckt, wie gewohnt, mehr drin, als es zu Anfang vielleicht scheinen mag. Neben Open-World-Titel wie Assassin’s Creed Odyssey und The Witcher 3 wirkt Kamorocho inzwischen fast winzig. Trotzdem schaffen es die Entwickler irgendwie wieder mehr einzigartige optionale Inhalte einzubauen, als die Konkurrenz. Eine bekannte Palette an Minispielen wartet auf Yagami, doch es sind die neuen Nebenbeschäftigungen, die endgültig den Sprung aus der finsteren Unterwelt der Yakuza erlauben. Während Kiryu Kazuma sich nur den skurrilen Nebengeschichten gewidmet hat, lernt Yagami als Zivilist die normalen Bewohner der Welt kennen. So diskutiert der Privatdetektiv mit einem Restaurantbesitzer über den Umgang mit Kundenkontakt und vereinbart mit Charakteren aus der Geschichte Treffen, oder sogar ein Rendezvous im lokalen Sushi-Lokal.

Judgment Telefon

Besagte Erzählung verläuft episodisch, von Fall zu Fall, denn so ganz kann der Ex-Anwalt seine Vergangenheit nicht hinter sich lassen. Den ersten Job als Detektiv kriegt er beispielsweise von seiner ehemaligen Kanzlei. Diese vertritt einen Yakuza-Boss, dem die Polizei einen brutalen Mord vorwirft. Yagami soll Beweise sammeln und findet schnell heraus, dass ein Serienmörder in Kamurocho sein Unwesen treibt, der seinen Opfern beide Augen ausdrückt. Doch obgleich die Handlung mit einer relativ einfachen Untersuchung beginnt, decken Yagami und seine Mitstreiter eine komplizierte Verschwörung mit einer Prise Geheimhaltung und einem Teelöffel Verrat auf. Involviert sind Polizei, Rechtssysteme, Yakuza und höchste politische Fraktionen. Diese Art von Kriminalthriller ist definitiv nicht neu, unterhält aber durch die ausgezeichnet gedrehten Zwischensequenzen hervorragend.

Drohnen-Derby am Tatort Tokio

Das Studio hat wieder viel Geld in Motion Capture und namhafte (lokale) Persönlichkeiten gesteckt. Dadurch ist das Spiel schon vor der westlichen Veröffentlichung ins Gespräch gekommen: Schauspieler Pierre Taki wurde für Drogenmissbrauch verhaftet, was in Japan große Wellen geschlagen hat. Sega hat sofortige Konsequenzen gezogen: Der Verkauf Judgment wurde sofort gestoppt. Die Figur des Gangsterbosses Hamura verkörpert inzwischen in allen Versionen ein anderer Schauspieler. Kurios: Auch der Konzern Square Enix hat Taki, der in Japan den Schneemann Olaf im Animationsfilm Die Eisprinzessin spricht, aus zugehörigen Medien entfernt. Von diesem Skandal merkt man nun in keiner Fassung des Videospiels etwas. Die Darsteller liefern glaubhafte Emotionen ab, ohne in zu dramatische Gefilde abzudriften, wie vergleichbare Spieleproduktionen. Erstmals gibt es nun auch eine englische Sprachausgabe und ausführliche deutsche Untertitel.

Das neue Thema der Anwalts- und Detektivarbeit wurde aber nicht nur durch Inszenierung realisiert. Statt sich wie in Yakuza ausschließlich mit Gegnern zu prügeln, muss Yagami nun Zeugen befragen, Verdächtige beschatten und Videomaterial per Drohne sammeln. An dieser Stelle werden sich die Geister scheiden: Denn statt einer soliden Abwechslung zu den Kämpfen ist die Detektivarbeit repetitiv. Die fünfte Beschattung kann schnell zur nervigen Verpflichtung werden. Die sechste Spurensuche an Tatorten möchte der Spieler schnell hinter sich bringen, um wieder zu den interessanten Teilen von Judgment zu kommen. Vielleicht ist Ryu Ga Gotoku Studio dabei etwas zu konservativ mit Neuerungen. Es ist schwer auszumachen, ob die neuen Elemente aus vergleichbaren Spielen zu gewohnt sind, oder die restlichen Teile einfach qualitativ hochwertiger.

Judgment Kampf

Fazit

Wer Yakuza gespielt kann in Judgment eintauchen und schwimmen, wie ein Fisch im Wasser. Aber was erst sehr bekannt vorkommt, wird langsam etwas Eigenständiges. Kamurocho bleibt immer gewohnt, aber die Perspektive ändert sich. Während Kiryu als Yakuza immer in der Unterwelt geblieben ist, hat Yagami einen anderen Blickwinkel. Der Spieler sieht Tokio und dessen Bewohner in einem neuen, zivilen Licht. Dann wird auch klar, warum die alte Formel auch neu gut funktioniert: Diese offene Welt wirkt nicht konstruiert, sondern lebendig. Davon können andere Spiele mit größerem Budget oft nur träumen.

Judgment ist für die Playstation 4 erhältlich.

zusätzlicher Bildnachweis: 
© Sega

Judgment - Launch Trailer | PS4

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